Zehn Jahre Missbrauchsskandal – Was wurde gelernt?

Hochschule Landshut lud zur Veranstaltungsreihe „Dialog auf dem blauen Sofa“ mit Pater Klaus Mertes und Prof. Dr. Jörg Fegert.

Am 28. Januar 2010 wurde er in der Berliner Morgenpost abgedruckt: der Brief von Pater Klaus Mertes, damaliger Rektor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg, den er an 600 Ehemalige der 1970er- und 1980er-Jahrgänge schrieb. Inhaltlich ging es um Missbrauchsfälle an der Schule, die drei ehemalige Schüler ihm kurz zuvor berichtet hatten. Auf den Tag genau zehn Jahre später nahm Pater Klaus Mertes zusammen mit dem Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Jörg Fegert auf dem „Blauen Sofa“ im Salzstadel Platz, um über die Geschehnisse und die Folgen daraus zu sprechen.

Wie sehr das Thema Kindesmissbrauch in katholischen Internaten die Gesellschaft auch zehn Jahre nach Anstoß der Debatte noch bewegt, zeigte der große Publikumsandrang im Salzstadel. Gebannt folgten die rund 100 Besucherinnen und Besucher den Ausführungen von Pater Mertes, der zu Beginn sein Treffen mit den drei Absolventen des Canisius-Kollegs schilderte. „Gerüchteweise hatte ich schon von solchen Vorfällen gehört“, so Mertes, „mit den Offenbarungen der drei inzwischen erwachsenen Männer entschlüsselte sich für mich aber eine völlig neue Welt.“ Es sei ein Bauchgefühl gewesen, das ihn dazu bewegt habe, den offenen Brief zu schreiben. „Welche Dimension das Ganze annehmen würde, hatte ich damals nicht erwartet“, ergänzte Mertes.

Genau das richtige Bauchgefühl

„Für dieses Bauchgefühl kann ich Sie nur beglückwünschen“, erwiderte Fegert. Über 30 Jahre hätten er sowie Kolleginnen und Kollegen im Bereich Kindesmissbrauch geforscht – fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit. „Erst durch Sie wurde das Thema endlich salonfähig.“ Fegert wollte sich jedoch nicht alleine auf die Kirche beschränken und wies darauf hin, dass in jeder Institution Kindesmissbrauchsfälle auftauchen: in Krankenhäusern, in Schulen aber auch in den eigenen vier Wänden.

Sowohl Fegert als auch Mertes kritisierten in diesem Zusammenhang, dass viel zu oft nur auf die Täter geschaut werde. „Zu selten wird auf die Betroffenen eingegangen“, monierte Fegert. „Die reine Täterperspektive ist dabei ein typisch deutsches Phänomen.“ Mertes erklärte diese Tatsache mit der deutschen Verschwiegenheitskultur und dem Harmoniebedürfnis innerhalb der Gesellschaft: „Missbrauch hat immer etwas mit Ausgrenzung aus der Gemeinschaft zu tun. Diese Geschichten möchte man in einer funktionierenden, heilen Welt nicht hören.“

Nach der Veröffentlichung seines Briefes, haben Pater Mertes zahlreiche Betroffene aufgesucht. „Dadurch wurde mir zum ersten Mal klar, dass im Missbrauchsskandal ein Opfer nicht bedeutet, dass es nur einen Täter gibt, sondern dass es einen Täter aber 40 oder 50 Opfer geben kann“. Viele Betroffene hätten auch nach über sieben Jahren das Geschehene noch nicht verarbeitet, so Mertes. „Mit denen treffe ich mich heute noch regelmäßig.“

Gesellschaftliches Tabuthema

Fegert machte beim Thema Kindesmissbrauch nach wie vor ein gesellschaftliches Problem aus. Respektspersonen wie Kleriker, Ärzte oder Lehrer hätten eine Art Schutzschild. „Wie oft hört man leider: ‚So spricht man nicht über einen Pfarrer‘ oder ‚ein Arzt muss dich ja anfassen, dass du gesund wirst‘“, äußerte Fegert sein Unverständnis.

Mertes blickte trotzdem mit Zuversicht in die Zukunft und zeigte sich optimistisch, dass sich ein ähnlicher Kirchen-Missbrauchsskandal nicht wiederholen wird. „Meinen Optimismus ziehe ich dabei aus der Kraft der Stimmen der Opfer“, so Mertes. Dafür müsse sich aber in der Institution Kirche einiges ändern. „Es braucht eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die unabhängig von der Institution selbst ist.“ Das monarchische Prinzip, nach dem nur Kleriker über Kleriker richten können, sei längst überholt.

Fegert stimmte mit Mertes überein und übertrug dessen Forderungen auf weitere Institutionen. Als Beispiel nannte er den Vorfall am Bezirkskrankenhaus Landshut, wo Patientinnen und Patienten übermäßig oft fixiert wurden. Auch hier brauche es Kontrollorgane, wie beispielsweise Beschwerdemöglichkeiten oder eine Besuchskommission.

Verantwortung erkennen und richtig handeln

„Aus den Skandalen haben wir gelernt, dass Schutzkonzepte in Institutionen immer wichtiger werden – nicht nur in der katholischen Kirche“, so Fegert. In den Forschungsprojekten zur Umsetzung von Schutzkonzepten mit der Hochschule Landshut und der Universität Hildesheim habe man gesehen, dass sich Schutzkonzepte nicht darauf beschränken dürften, Präventionsbeauftragte zu benennen oder ein Konzept in der Schublade verschwinden zu lassen. Einig war man sich auf dem Sofa darüber, dass Verantwortliche ihre Verantwortung erkennen müssten, den Schutz von Menschen in Institutionen zu gewährleisten.   

Podiumsdiskussion mit dem Publikum

Im Anschluss an die Ausführungen von Prof. Dr. Fegert und Pater Mertes hatte das Publikum Gelegenheit, Fragen zu stellen. Hier zeigte sich das große Interesse an dem Thema der Veranstaltung. Besonders in Erinnerung dürfte allen die Wortmeldung eines ehemaligen Regensburger Domspatzen bleiben, der emotional von seinem eigenen Missbrauch berichtete.

Der „Dialog auf dem blauen Sofa“ ist eine Veranstaltungsreihe der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Landshut in Kooperation mit dem Forschungsinstitut IKON sowie der Katholischen Hochschulgemeinde. Als Moderierende durch den Abend führten Prof. Dr. Mechthild Wolff, Leiterin der Forschungsgruppe „Kinderschutz in Institutionen“ an der Hochschule Landshut und Hochschulseelsorger Dr. Alfons Hämmerl.

Foto: Hochschule Landshut

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