Was lernen wir aus der Corona-Krise?

Vier Professoren des Technologiezentrums Produktions- und Logistiksysteme der Hochschule Landshut in Dingolfing teilen ihre Ansichten, wie die Erkenntnisse der Corona-Krise für Lieferketten der Industrie und für die Wirtschaft insgesamt einzuordnen sind

Die Bewältigung der Corona-Krise ist und bleibt eine gemeinschaftliche Aufgabe der Gesellschaft. Jede Maßnahme in einem komplexen System beinhaltet neben der eigentlichen Wirkrichtung auch Nebenwirkungen und Implikationen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht sofort ersichtlich sind. Ist der Wohlstand, den sich die Gesellschaft vor allem in Europa gesteigert in den Jahren 2010 bis 2020 aufgebaut hat, auf tönernen Füßen gebaut, da Nachhaltigkeit, Wandlungsfähigkeit und Flexibilität zugunsten von kurz- und mittelfristigen Renditen vernachlässigt wurden? Was kann uns vor künftigen Zusammenbrüchen komplexer Wertschöpfungsketten bewahren? Ist die globalisierte Arbeitsteilung noch das Rezept der Zukunft und wie schaffen es Unternehmen, sich durch Krisen jeglicher Größe und Art zu manövrieren? Es braucht neue Ansätze, Gedanken und Konzepte!

Dies haben sich die vier Professoren des Instituts für Produktions- und Logistiksysteme (TZ PULS) in der Außenstelle der Hochschule Landshut in Dingolfing auf die Fahnen geschrieben und beziehen Stellung zur aktuellen Lage.

„In der Corona-Krise liegt auch eine Chance zur nachhaltigen Digitalisierung und robusten Gestaltung des Wertschöpfungsnetzwerks“ - Prof. Dr. Sebastian Meißner

Neben der Tragik für viele Betroffene und der Heftigkeit des wirtschaftlichen Einbruchs zeigt die Corona-Krise auch, welche Kreativität und Flexibilität in Unternehmen vorhanden sind. Abteilungsgrenzen werden aufgelöst, Aufgabenverteilungen angepasst und Kommunikationswege neu erfunden. Der große Krisengewinner ist die Digitalisierung. Waren bisher in vielen Unternehmen Bedenken groß, so wurden viele Organisationseinheiten nun gezwungenermaßen auf die Nutzung digitaler Werkzeuge und Cloud-Systemlösungen in einer „digitalen (R)Evolution“ der Abläufe umgestellt. Das Internet der Dinge, Daten und Dienste eröffnet nicht nur in der Krise Transparenz über Handlungsspielräume, sondern ermöglicht einen gemeinschaftlichen Zugriff auf wertvolle Informationen.

Die Beschäftigten spüren nun die Chancen der digitalen Transformation, aber erleben gleichzeitig die Schattenseiten eines mangelhaften IT-Systemdesigns. Den neuen Erfindergeist und den Mut zum Ausprobieren gilt es nun systematisch in produktive Systeme und robuste Prozesse zu überführen. Viele Fragen bleiben aktuell unbeantwortet und müssen zukünftig in einer robusten Digitalisierungsstrategie beantwortet werden:

  • Welche Daten in Logistik und Produktion sollten digital erfasst und jederzeit abrufbar sein?
  • Wie können Daten systematisch zusammengeführt und ausgewertet werden?
  • Wie sind Zugriffsrechte und Datensicherheit geregelt?
  • Welche Entscheidungsparameter und Stammdaten müssen an die neuen Gegebenheiten angepasst werden?
  • Wie krisenfest ist die IT-Infrastruktur?

Neben der internen Arbeitsorganisation rückt nun auch das Supply Chain Management in den Vordergrund. In Zeiten der globalen Krise ist insbesondere durchgängiges Supply Chain Risk Management der Schlüssel zur Lieferfähigkeit. Zu lange haben viele Unternehmen darauf verzichtet, ihre IT-Systeme besser mit denen ihrer Kunden und Zulieferer zu vernetzen und einen erweiterten Austausch von Daten zu ermöglichen. Dies rächt sich nun. In einem „Blindflug“ über Bestände und vorhandene Produktionskapazitäten in der Lieferkette bleibt nur das Prinzip Hoffnung. Und auch hier liegt die Chance zur Digitalisierung. Supply Chains brauchen gemeinsame Cloud-Systeme zum Live-Datenaustausch. Transportketten müssen mit Sensoren und auf Grundlage moderner Funktechnologie transparent gemacht werden. Bestandsreichweiten und Lieferzeiten müssen automatisiert Supply-Chain-übergreifend überwacht und Entscheidungsparameter durch intelligente Systeme automatisiert angepasst werden. Robuste Supply Chains entstehen durch dynamischen Datenaustausch, hohe Transparenz und aus der damit gewonnen Reaktionsfähigkeit. Zu den fünf „Rs“ der Logistik (das richtige Gut in der richten Qualität zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu den richtigen Kosten) müssen drei neue dauerhaft dazukommen: die richtige Information für die richtigen Beteiligten durch die richtigen Systeme in „real time“.

Sebastian Meißner ist Professor für Produktionsmanagement und Logistik an der Hochschule Landshut. Er leitet den Forschungsschwerpunkt Produktions- und Logistiksysteme. Darüber hinaus berät er Unternehmen bei Themenstellung der Industrie 4.0, Supply Chain Management sowie der Logistik- und Fabrikplanung.


„Es wird eine Konzentration der großen Wirtschaftsräume Europa, Asien und Nordamerika geben“ - Prof. Dr. Carsten Röh

Die Unternehmen der verarbeitenden Industrie machen im Zuge der Corona-Krise gerade in erster Linie einen Angebotsschock durch. Dieser wird verschärft durch Fürsorgemaßnahmen gegenüber den eigenen Beschäftigten bzw. durch ggf. erhöhte Krankenstände. Beides gemeinsam verschärft die Angebotslage für nachgelagerte Betriebe in den etablierten Wertschöpfungsketten. Verschärft wird die Lage durch den bisher stärksten Abfall des Konsumklimaindexes – gemessen von der GFK in Nürnberg seit der Einführung 1994. Weiterhin meldet das IFO-Institut den stärksten Einbruch des Geschäftsklimas seit der Einführung 1991. Damit wächst eine von allen Seiten bedrohliche Lage für Unternehmen, denen diese jedoch nicht mittel- bzw. hilflos gegenüberstehen. Krisen zwingen uns regelmäßig die Arbeitsweise zu ändern. Da der Verfasser nicht die Welt zu retten vermag, widmet er sich hier primär der Supply-Seite und kann feststellen, dass die heutige Lage an einem Scheidepunkt eines bisher sehr erfolgreichen gegangen Pfades liegt. Es stehen Überlegungen und Entscheidungen an, ob und wie man den Weg oder eine bestimmte Strecke „zurückgehen“ sollte bzw. ob man die bisherigen Erfahrungen dafür nutzen solle, absehbar geschickt „abzubiegen“ und u.a. die eigene Beschaffungsstrategien zu überdenken.

Um mit den Risiken komplexer internationaler Bezugsquellen unternehmerisch verantwortlich umgehen zu können, bzw. um überhaupt eine belastbare Basis dafür zu haben, diese sinnvoll nutzen zu können, sind in Theorie und Praxis mehrere Instrumentarien herausgebildet worden:

  • Supply-Chain-Management, um aus primär logistischer und produktionsplanerischer Sicht Lieferketten unternehmensübergreifend zu planen und zu steuern
  • Lieferantenmanagement zur Auswahl, Bewertung, Kategorisierung und Qualifizierung von Bezugsquellen
  • Risikomanagement – gekoppelt mit dem o.g. Lieferantenmanagement, um präventiv (vermeidend) und reaktiv (im Krisenfall) wirken zu können
  • IT / Digitalisierung und den damit verbundenen Anwendungsformen wie Internet der Dinge, Big Data, Vernetzung und den großen Schlagworten unserer Zeit wie „Industrie 4.0“ oder „Künstliche Intelligenz“.

Es lassen sich quasi als „Gegenbewegung“ zur Internationalisierung/Globalisierung Phänomene einer Rückverlagerung bzw. Repatriierung von Produktion und Bezugsquellen ableiten, bis hin zu Autarkieansätzen. Dies äußert sich auf unternehmerischer Ebene in Form von Rückverlagerungen eigener Produktion oder gezielter Vergabe von Lieferanten vor Ort in den Heimatmärkten („local sourcing“). Dieser Trend wird gestützt durch mehrere Trends und Tendenzen, wie Risikoabwägungen der Produzenten, politische Rahmenbedingungen wie „America First“, Tendenzen zu bilateralen Handelsabkommen, aufkeimende Handelskriege, Marktchancennutzung vor Ort durch regionale Produktion und steigende Sensibilisierung für Nachhaltigkeitsthemen - insbesondere Klimathemen wie „green logistics“.

Nimmt man den bisher gegangenen Pfad zur Globalisierung, wie wir sie heute sehen, die Erfahrungen aus dem Angebotsschock der Coronakrise und die unterstützenden Trends sowie Instrumente besonders aus der IT, so sollten Unternehmen nach der Überwindung der aktuellen Krise in Zukunft in zwei Stoßrichtungen denken:

1. Auf unternehmerischer Konfigurationsebene: Regionalisierung von Lieferketten mit jeweiligem Fokus auf die jeweiligen Triade-Märkte mit entsprechender „Tiefenlokalisierung“ vor Ort, sofern dies betriebswirtschaftlich sinnvoll ist. Dabei würden Unternehmen weiterhin die Vorteile internationaler Faktorbedingungen nutzen und so auf günstige Herstellungskosten kommen - sie wären jedoch nicht mehr international so verwundbar wie jetzt und könnten den Logistikaufwand klimafreundlich reduzieren. Dieser Ansatz wird in der Literatur mit „Multinationalen Strukturen“ bzw. „Divisionale Organisationen“ beschrieben und wird seit den 1980er Jahren diskutiert. Sie stellen Zwischenschritte zur Globalisierung dar, die uns oben genannte Herausforderungen beschert.

2. Auf betrieblicher Ebene: Konsequente Nutzung und weiterer Ausbau von IT im Kontext Lieferantenmanagement zu präzisen Erfassung, Prognose und Entscheidung von Supply-Themen. Dabei sollten im Fokus Aspekte des präventiven und reaktiven Risikomanagements stehen, was im weitesten Sinne ein Plädoyer für einen Ausbau des beschafferischen Instrumentariums i.S.e. „Einkaufes 4.0“ darstellt. Hat dieser Ausbau einen hinreichend hohen Reifegrad, so kann dieses Instrumentarium zu risikoreichen – auch globaleren – Beschaffungsaktivitäten befähigen. Eine von uns im Jahr 2013 abgeschlossene Studie zum Thema „Finanzielles Risikomanagement in der Automobil-Zuliefererindustrie“ hat bestätigt, dass in Sachen Risikomanagement gut aufgestellte Unternehmen ihrerseits aggressivere und damit betriebswirtschaftlich nachhaltigere Beschaffungskonzepte fahren konnten als diesbezüglich weniger engagierte Unternehmen.

Dr. rer. pol Carsten Röh studierte in Bamberg und Rom „Europäische Wirtschaft“. Er ist nach 14 Berufsjahren in internationalen Vertriebs- und Beschaffungsfunktionen der Automobilindustrie seit 2009 Professor für Automobilwirtschaft an der Hochschule Landshut. Röh ist Co-Autor des Standardwerkes „Materialwirtschaft und Einkauf“ und hat mehrere, auch international angelegte Studien im Kontext Risikomanagement, Rohstoffbeschaffung und Ressourceneffizienz durchgeführt. Er berät ferner Unternehmen in Beschaffungsfragen.


„Eine neue Form der Super-Agilität wird kommen müssen und erfolgreiche Produktionsunternehmen von morgen kennzeichnen“ - Prof. Dr. Sven Roeren

Das übergeordnete Ziel aller Unternehmen ist und bleibt die Gewinnmaximierung, das ist das Grundrezept der Markwirtschaft. Letztlich ist es unverrückbar, dass über unternehmerisches Wirken und das damit verbundene Risiko Erfolge provoziert werden und dadurch das Gemeinwohl partizipiert. Nun ist die Frage, wie stark sich die Rolle des Staats in einer Krisensituation einmischen sollte und darf, um das Grundgesetz der Marktwirtschaft, nämlich die individuelle Belohnung von Erfolg, der auf dem volatilen Wechselspiel von Risiko und Schaffenskraft fußt, sagen wir zu „ergänzen“. Eine schwierige Aufgabe für den Staat an sich, aber, wenn man ehrlich ist, fast schon unerheblich für die Fragestellungen nach Handlungsalternativen für einzelne Unternehmen. Natürlich werden sich Unternehmen an staatlich offerierten Werkzeugen bedienen, aber es sei eine große Warnung ausgesprochen, dies als Selbstverständlichkeit, Überlebensgarantie oder gar Abgabe der Verantwortung für Unternehmen und Unternehmer zu sehen.

Vielmehr müssen Unternehmen für sich selbst eigenständige Wege finden und letztendlich sind solche Krisensituationen eine Beschleunigung der Dynamik klassischer Marktgesetze. Wie kann also die Antwort lauten? Hier gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Entweder man plant frühzeitig Optionen unterschiedlicher Handlungen und Systeme quasi als Reaktion auf dann sich einstellende Szenarien mit ein. Dies wird in vielen produzierenden Unternehmen seit der Finanzkrise 2009 konsequent durch kurz-, mittel- und langfristige Schichtanzahlsplanung recht binär umgesetzt. Fabriken sind darauf ausgelegt, innerhalb bekannter Grenzen wirtschaftlich zu produzieren, mit bekannten Optimierungskurven aus Produktivitäts- und Outputzielen. In vielen Projekten am Technologiezentrum in Dingolfing und den angegliederten Institutionen sind diese Betrachtungen für Produktionswerke aller Größenordnungen in den letzten 15 Jahren angestellt worden.

Die Frage ist, ob die Wucht und die Kurzfristigkeit der Corona-Krise auch hier nochmals neue Wege und Ansätze verlangt. Denn auch die bislang umgesetzten Aktivitäten zur Unterstützung von Flexibilität und Wandlungsfähigkeit haben ihre Grenzen, vor allem in Bezug auf eingesetzte Produktionsmittel, aber auch Starrheit in Organisation und Management. Wie wäre es, wenn Unternehmen hier eine neue Form der „Super-Agilität“ für sich erkennen? Hiermit ist gemeint, extrem disruptiv alles Bewährte auf den Prüfstand zu stellen und kurzfristig sowohl technische und prozessuale, aber auch organisatorische Randbedingungen aufzuweichen. Grundsätzlich sind Randbedingungen harte Banden, die das Spielfeld für unternehmerisches Wirken beschreiben. Aber können nicht genau extreme Situationen für Unternehmen die Chance schlechthin sein, um Randbedingungen neu zu definieren? Genau das ist mit Super-Agilität gemeint. Übergeordnet kann nur das, was ein Unternehmen als Kernkompetenz erkannt und gepflegt hat und der Bedarf des Marktes als übergeordnete Randbedingungen, quasi als letzter Haltepunkt gelten. Hierbei ist festzuhalten, dass der Markbedarf mit einzelnen Ausnahmen (etwa der Gummibären-Produktion) natürlich in Krisen (zumindest kurzfristig) einbricht. Aber wir leben in einer Welt, in der weiterhin Wohlstandsstreben des Einzelnen (wobei die Definition von Wohlstand seit Jahren in einem interessanten Wandel inbegriffen ist) und Gewinnstreben von Unternehmen bestimmend für die Geschicke dieses Planeten ist.

Es gilt sich also an übergeordneten Randbedingungen zu orientieren, „Randbedingungen zweiter Wahl“ zu identifizieren, bewusst zu erweitern und extrem agil Wettbewerbsvorteile zu sichern. Natürlich hilft es, die notwendige Energie auf den Rippen zu haben, um eine bestimmte Zeit der Einigelung zu überstehen – eine Zeit aber, in der nur die Bänder stillstehen, während die Zahnräder in den Köpfen des Top-Managements hoffentlich auf Hochtouren laufen.

Sven Roeren ist Maschinenbau-Ingenieur mit Hang zum Management. Er studierte an der TU München, promovierte ebenda am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) und war für unterschiedlichste Produktionsbereiche verantwortlich. Heute lehrt und beforscht er Produktionsmanagement an der Hochschule Landshut, leitet ein Beratungsunternehmen und ist an mehreren Produktionsunternehmen beteiligt.


„Ein Plädoyer, die ‚Gewinnmaximierung‘ durch die ‚Überlebensfähigkeit‘ als Handlungsmaxime zu ersetzen“ - Prof. Dr. Markus Schneider

Die Corona Krise führt uns deutlich vor Augen, wie anfällig unsere heutigen weltweiten Lieferketten sind. Sind wir noch in der Lage uns als Unternehmen, als Land oder zumindest als Europa autonom und autark zu versorgen? Wie anfällig sind wir gegenüber Krisen in anderen Teilen der Welt, Pandemien, Naturkatastrophen oder anderen politischen und militärischen Konflikten?

Unser unternehmerisches und politisches Handeln wird seit Jahrzehnten vornehmlich durch Prinzipien wie Arbeitsteilung, die Konzentration auf Kernkompetenzen und das Outsourcing aller anderen Tätigkeiten bestimmt. Die Gewinnmaximierung als Handlungsmaxime begünstigt eine kostenorientierte Entscheidungsfindung und eine weltweite Allokation der Teilleistungen. Dies scheint transportintensive, lange, weltweit verteilte und leider auch anfällige Wertschöpfungsketten zu begünstigen.

Ein Indikator für unser Wirtschaften ist die Fertigungstiefe. Diese hat sich im Laufe der letzten Krise in Deutschland von unter 54 % auf knapp 62 % im Jahr 2008 erhöht. Hat hier ein grundsätzliches Umdenken in der Gestaltung von Wertschöpfungsketten stattgefunden oder wollte man „nur“ kurzfristig die eigenen Leute beschäftigen? Der anschließende Rückgang auf ca. 56 % lässt wohl eher letzteres vermuten.

Wir werden unsere in den letzten Jahrzehnten geprägten Grundsätze und Prinzipien des Wirtschaftens, wie Konzentration auf Kernkompetenzen und weltweites Sourcing auf den Prüfstand stellen müssen.

Die entscheidende Frage bei der Gewinnmaximierung als Handlungsmaxime ist der Betrachtungszeitraum. Kurzfristige, in Monaten oder Quartalen gedachte Gewinnmaximierung mag langfristig bedenkliche Ergebnisse produzieren. Eine in Jahren oder Jahrzehnten gedachte Gewinnmaximierung, produziert andere Entscheidungen.

Ich plädiere daher dafür, den langfristigen Handlungshorizont zu bevorzugen und die Gewinnmaximierung durch die „Überlebensfähigkeit“ als Handlungsmaxime zu ersetzen, wie dies im systemisch-evolutionären Weltbild vorgeschlagen wird.

Das von mir vor Jahren erdachte „PPRL-Modell (Produkt – Prozess – Ressource - Lenkung)“ hilft „überlebensfähige“ Einheiten zu bilden. Aus Sicht der Produkte sollte ein Werk vielleicht nicht Einzelteile oder Komponenten, sondern „verkaufbare und nutzbare Produkte“ herstellen. Dies könnte bedeuten, dass wir nicht, wie heute, in einem Werk in Deutschland die Fertigung von Komponenten mit komplexen Maschinen betreiben, die Einzelteile zur Vormontage nach Tunesien und dann zur Endmontage nach Rumänien fahren. Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass das Produktionsnetzwerk extrem anfällig ist. Wenn ein Werk steht oder eine Transportkette unterbrochen wird, steht sehr bald das komplette Netzwerk. Wäre aber jedes Werk für sich „überlebensfähig“ und würde die komplette Produktion, von der Vorfertigung über die Vor- bis zur Endmontage abbilden, würden wir jede Menge Transport einsparen und wenn ein Werk ausfällt, wären die beiden anderen immer noch einsatzfähig.

Das Denkmodell des Fraktals nutzend, könnte dann für die Region, den Staat oder auch den Wirtschaftsraum Europa die Frage gestellt werden, welche Produkte müssen vor Ort produziert werden, um „überlebensfähig“ zu sein?

Diese Fragen lassen sich auch für Ressourcen durchspielen. Auf welche Ressourcen müssen wir Zugriff haben? Energie, Rohstoffe, bestimmte Fertigungstechnologien. Die Lenkung beschäftigt sich damit, wie wir einzelne Einheiten entscheidungs- und handlungsfähig halten.
Sind diese Randbedingungen definiert, sind wir am TZ PULS die Experten, die dabei helfen können, die Prozesse auf diese Randbedingungen hin zu optimieren. Ich bin überzeugt, dass neben einer Digitalisierung der Wertschöpfungsketten, auch eine auf Lean-Prinzipien basierte Neuorganisation der Produktionsnetzwerke erforderlich ist.

Markus Schneider ist Prozessplaner mit einem Faible für das Systemdenken. Er leitet das Technologiezentrum Produktions- und Logistiksysteme und die 900m² große Lern- und Musterfabrik „Intelligente Produktionslogistik“. Er verantwortet mehrere Forschungsprojekte rund um Themen der Fabrikplanung, Prozessoptimierung sowie Industrie 4.0 und betreibt ein Beratungsunternehmen das im Bereich der Produktions- und Logistikoptimierung tätig ist.