Was eine gute Digitalstrategie braucht

Prof. Dr. Jürgen Wunderlich im Interview zur Frage "Verliert Deutschland bei der Digitalisierung noch weiter den Anschluss?"

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Wunderlich von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut sieht bei der digitalen Infrastruktur "kein Strategie-, sondern ein Umsetzungsdefizit". Aus seiner Sicht braucht eine Digitalstrategie präzise Ziele, die kontrollierbar sind und auch regelmäßig kontrolliert werden.

In einem ersten Entwurf für eine Digitalstrategie der Bundesregierung heißt es nach Medienberichten, Deutschland stehe bei der Digitalisierung seit Jahren nur im Mittelfeld. Wie gefährdet sehen Sie die Zukunft des Landes?
In der Tat besteht die Gefahr, dass Deutschland bei der Digitalisierung noch weiter den Anschluss verliert. Das fängt leider schon bei den Schulen an. Hier kommt die Digitalisierung kaum voran. Nicht viel besser sieht es bei der Digitalisierung der Verwaltung aus. Durch die Corona-Pandemie wurden die schon länger bestehenden Defizite für jeden sichtbar. Es wurde jahrelang viel zu wenig in die digitale Infrastruktur, die technische Ausstattung und das Personal investiert. Allein zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) werden ca. 33.300 IT-Fachkräfte im öffentlichen Sektor benötigt. Diese sind in Anbetracht des Fachkräftemangels kaum zu bekommen. Eine effektive Verwaltung ist aber nicht nur ein wichtiger Standortfaktor, sondern erfolgsentscheidend für die ökonomische Entwicklung, wie gerade die baltischen Staaten oder auch Polen zeigen. Am Beispiel Polens wird aber auch deutlich, dass Aufholen möglich ist, wenn ein gemeinsamer Wille dafür existiert und alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Aktuell geht jedoch z.B. das Nachweisgesetz leider in die komplett falsche Richtung und mutet den Arbeitgebern viel zu viel Aufwand zu. Andere Länder haben diese EU-Richtlinie deutlich besser umgesetzt.

Ende 2025 soll die Hälfte aller Haushalte mit Glasfaser und dem neuesten Mobilfunkstandard versorgt sein. Wie bewerten Sie dieses Ziel?
Derzeit sind die Aktivitäten beim Ausbau so hoch, dass das 50%-Ziel locker zu schaffen ist. Allerdings ist das 50%-Ziel nicht wirklich ambitioniert und kaum geeignet, den Rückstand im Vergleich zu anderen Ländern bei gigabitfähigen Anschlüssen aufzuholen. Hinzu kommt, dass die zweiten 50% bis Ende 2030 sowieso viel schwieriger zu erschließen sind. Dadurch besteht die Gefahr, dass v.a. in lukrativen Gebieten zwei oder drei Firmen parallel ausbauen (wollen) und in anderen (dünnbesiedelten, ländlichen) Gegenden weiter gar nichts passiert, so dass „weiße Flecken“ bleiben. Zwar will der Staat mit Hilfe von Förderung aktiv eingreifen, aber wer genau zuständig ist, bleibt leider unklar. Insofern liegt kein Strategie-, sondern ein Umsetzungsdefizit vor. Verschärfend wirken sich die verschleppte Einrichtung eines digitalen Gigabit-Grundbuchs sowie Engpässe beim Personal in Bauämtern und Tiefbauunternehmen aus. Vermutlich ist es besser, schneller und günstiger, zur Versorgung dünn besiedelter Gebiete auf Satelliten zu setzen und die Fördermittel hierfür auszugeben.

Für die digitale Verwaltung soll es eine sichere digitale Identität geben. Welche Herausforderung sehen Sie diesbezüglich?
Identitätsthemen spielen bei der Digitalisierung eine entscheidende Rolle. Gerade für Dienstleistungen, die eine Authentifizierung über die staatliche Kernidentität erfordern, wie das z.B. bei der Eröffnung eines Bankkontos oder dem Beantragen von Verwaltungsdienstleistungen der Fall ist, müssen die EU und Deutschland vorangehen und Vertrauen durch Souveränität, Datenschutz und IT-Sicherheit schaffen, was bisher in Deutschland nicht gelang. Da im Moment die Überarbeitung der eIDAS-Verordnung in Brüssel beginnt, muss eine neue deutsche Lösung von Anfang an so gedacht werden, dass sie später Schnittstellen für eine Verknüpfung mit anderen europäischen Lösungen bietet und europaweit skalierbar ist. Um auf Akzeptanz bei den Menschen zu stoßen, müssen diese den Anwendungen vertrauen. Hierfür sind möglichst schnell konkrete Vorgaben von Seiten des Staates zu machen, da die Identitätsvergabe eine staatliche Monopolaufgabe ist. Damit eine digitale Identität aus einem Guss entsteht, die in so unterschiedlichen Anwendungen wie Geldwäschegesetz, Telekommunikationsgesetz, Vertrauensdiensten und Onlinezugangsgesetz zum Einsatz kommen kann, ist die Bündelung bei einer Stelle nötig. Aktuell sind jedoch mindestens drei Stellen bei der Entwicklung der digitalen Identität eingebunden. Es droht Kompetenzwirrwarr.

Was sollte unbedingt noch in der endgültigen Digitalstrategie stehen - und was keinesfalls?
Es ist entscheidend, Digitalisierung nicht mit Technologie gleichzusetzen, sondern viel umfassender als technologisch vernetzte Kommunikation zu verstehen. Beispielsweise haben digitale Kommunikationswege im Handel die Kundschaft enorm gestärkt: Aus Konsumierenden sind Prosumierende geworden, der E-Commerce hat sich in Richtung Social Commerce entwickelt. Austausch und Transparenz werden für Anbieter zu zentralen Voraussetzungen, um Beziehungen zur Kundschaft aufzubauen und zu erhalten. Es muss also der Handel als Treiber des digitalen Wandels ein Teil der deutschen Digitalstrategie werden. In vielen staatlichen Bereichen ist es dagegen nicht nötig, das Rad neu zu erfinden. Ein Benchmarking mit Blick auf andere EU-Länder hilft häufig. So speichert z.B. Finnland die medizinischen Daten aller Bürger in einer zentralen Datenbank und kann so sein Gesundheitswesen viel mehr in Richtung Prävention ausrichten. Ein weiterer Fokus muss der Ausbildung gelten, um den eklatanten Mangel an IT-Fachkräften zu beheben. Die Schulen und Hochschulen sollten dabei vorangehen. Gestrichen werden können m.E. alle schwammigen Formulierungen. Deutschland muss dringend aufholen und dazu braucht es präzise Ziele, die kontrollierbar sind und auch regelmäßig kontrolliert werden. Nebulöse Absichtserklärungen helfen nicht.

Zum Originalbeitrag von meinungsbarometer