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Objektive Wahrheit nicht erkennbar

Wissenswerk: Wahrheitsbegriff am Beispiel der Geschichtsschreibung diskutiert

Dr. Karl Borromäus Murr bei seinem Wissenswerk-Vortrag.
Dr. Karl Borromäus Murr bei seinem Wissenswerk-Vortrag.

Der Begriff der „postfaktischen“ Wahrheit hat mit der Wahl des neuen US-Präsidenten zu vielfältigen Debatten geführt. Die Diskussion um den Wahrheitsbegriff, um die Erkennbarkeit von objektiver Wahrheit, sei aber alles andere als neu, wie Dr. Karl Borromäus Murr (Direktor des Staatlichen Textil- und Industriemuseums Augsburg) am Beispiel der Geschichtsschreibung im jüngsten Wissenswerk-Vortrag am 15. Mai 2017 an der Hochschule Landshut zeigte. „Über historische Wahrheit in postfaktischer Zeit“ lautete das Thema, in dem er vor rund 150 interessierten Teilnehmern ausführte, dass eine objektive Wahrheit auch für heutige Historiker – und nicht nur für diese -  nicht erkennbar sei. Der Vortrag fand im Rahmen des Wissenswerk Landshut statt, einer Vortragsreihe in Kooperation zwischen Hochschule Landshut, Hochschulgemeinde und BMW Werk Landshut, die einmal pro Semester aus unterschiedlichen Perspektiven das Wissen über das Wissen beleuchtet. Von der Gesellschaft für deutsche Sprache wurde „postfaktische Wahrheit“ als Wort des Jahres 2016 gewählt, in den Medien sei vom Ende des Zeitalters faktischer Begründung gesprochen worden, wie Hochschulpräsident Prof. Dr. Karl Stoffel in seiner Begrüßung anmerkte. Und dass der Wahrheitsbegriff gerade nach der Wahl des US-Präsidenten hinterfragt wird, sei auch daran abzulesen, dass George Orwells Roman 1984, den er bereits 1948 verfasste, nach der Wahl des US-Präsidenten zum meistverkauften Buch in den USA wurde, erklärte Dr. Murr in seinem Vortrag. Darin lautet ein Leitspruch der Lenker des autoritären Staates: „wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft“. Dem entsprechend werden alte Zeitungsausgaben ständig umgeschrieben, um die Vergangenheit den Erfordernissen der Gegenwart und den aktuellen Parteipositionen anzupassen. Die Grundfesten der Wahrheit werden dadurch erschüttert, Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheidbar. „Aber wie halten wir es mit der Erinnerung?“ fragte Dr. Murr das Publikum.

Von Geschichten zur Geschichtsschreibung

Die unterschiedliche Interpretation des Wahrheitsbegriffs verdeutlicht er an der Entwicklung der Geschichtsschreibung. Den Begriff Geschichte habe es bis zur Aufklärung vor rund 200 Jahren nur im Plural als Geschichten gegeben. Das Ziel sei nicht historische Aufarbeitung gewesen, im Zentrum stand, Geschichten zu erzählen, die moralische Handlungsempfehlungen für das eigene Leben geben. Geschichte als die Lehrmeisterin des Lebens, „Historia Magistra Vitae“. Und schon damals seien Mythen um heldenhafte Personen, die sich durch Unbestechlichkeit und Tapferkeit als Vorbilder auszeichneten, oft geschichtlich so nicht belegbar. Erst mit der Aufklärung entstand ein völlig neues Verständnis von Geschichte, die in Politik, Gesellschaft und Kultur nun eine neue Rolle annahm: Geschichte solle laut Leopold von Ranke, einer der Gründungsväter der modernen Geschichtswissenschaften, „zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Der Anspruch an die Historiker lautete „mit Objektivität die Vergangenheit feststellen“, historische Tatsachen sollten so bewertet werden, wie sie unabhängig vom Beobachterstandpunkt geschehen seien mochten. Dies verbunden mit der Aufgabe, aus der Geschichte zu lernen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass es eine historische Wahrheit gibt, die Historiker erkennen und auch wiedergeben können. Der Vorstellung, aus den Erfahrungen der Geschichte lernen zu können, erteilte schon der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine Absage, Völker und Regierungen hätten niemals aus der Geschichte gelernt und danach gehandelt. Auch tauchte in der Geschichtsschreibung ein neues Motiv auch, nämlich nationale Identität zu stiften, die einmalige Historie des eigenen Volkes oder der eigenen Nation zu belegen. Ein richtiger Boom setzte ein, man untersuchte alte Steine und Ruinen, baute sogar eigens welche, wie Murr betonte, um sich der eigenen Herkunft besser bewusst werden zu können.

Keine objektive Wahrheit von Geschichte möglich

Trotz des mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften entstandenen Verständnisses, sehen stelle Erkennen dar, stand schnell die Frage im Raum, ob eine „objektive“ Erkenntnis über die Geschichtsschreibung tatsächlich möglich sei. Die Pariser Académie Royale des Sciences sei 1666 gegründet worden, um wahr von falsch zu unterscheiden. Die methodische Herleitung aus den empirischen Quellen, die jedermann überprüfen konnte, galt als Königsweg zur Begründung der Wissenschaftlichkeit. Doch dem Objektivitätsideal der historischen Wissenschaften erteilte u.a. schon Friedrich Nietzsche eine radikale Absage. Er plädiert für eine „Historisierung“ von vermeintlich ewig Gültigem, Werte seien im Fluss und damit auch manipulierbar. Der Soziologe Max Weber wiederum forderte eine Unterscheidung zwischen (moralischem) Werturteil, das zu unterlassen sei, und einer Wertbeziehung, wie z.B. eine demokratische oder auch marxistische Grundgesinnung, die den geschichtlichen Fragen zugrunde liegt. Es gäbe keine Erkenntnis an sich, sondern nur perspektivisch geformte. Auch für Ernst Cassierer gibt es keine nackten Fakten, die ohne Urteils-Zusammenhang entstehen, zusätzlich werde die Wahrnehmung durch Sprache und Zeichen geformt, die Sinnzuschreibung erst konstruiere. Hans-Goerg Gadamer plädiert schließlich für einen hermeneutischen Prozess, indem auch die eigenen Vorurteile bewusst betrachtet werden. Der philosophische Konstruktivismus, der in den 1960er Jahren zutage trat, geht von der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ aus, wie sich die gleichlautende Studie von Peter Berger und Thomas Luckmann nennt. All unser Wissen sei gesellschaftlich für eine bestimmte soziale Gruppe konstruiert, die in Interaktion zwischen Individuen und Gesellschaft entstehe. Extrem zugespitzt gebe es für die Poststrukturalisten überhaupt keine Fakten mehr, sondern nur geschriebene Texte. Diese Relativierung von Wahrheit wird heute von manchen als eigentlicher Grund für die Misere des Postfaktischen gesehen. Für Murr zeigt sie vor allem, dass sich die Geschichtsschreibung schon vor langem von einem naiven Verständnis von Wahrheit, Objektivität und Faktizität verabschiedet hat, zum Besseren für die Erkenntnis und Wirklichkeit.

Neue Medien als Ausgangspunkt für postfaktische Verunsicherung

Als Ursache für die tiefe Verunsicherung von Sprache und Wirklichkeit sieht Dr. Murr eher das Entstehen von neuen Medien. Immer wenn in der Geschichte sich neue Medien in der Gesellschaft etabliert hätten (Buchdruck, Fotografie, Radio, Film), habe das zu Irritationen der bis dahin dominierenden Wahrheitsvorstellung geführt.  So habe man z.B. beim Aufkommen der Fotografie geglaubt, dass diese die Wirklichkeit zeige, die aber genauso verfälscht wie heutige TV-Bilder oder auch Twitter-Meldungen sein können. Gerade die ungefilterte Kommunikation über Twitter und Facebook mit dem Wahlvolk führe zu momentanen Erregungszuständen, der auf einen Wahrheitseffekt abziele. „Mit unserer bisherigen Medienerfahrung tun wir uns schwer, in den digitalen Medien zwischen wahr und falsch unterscheiden,“ wie Dr. Murr zusammenfasst. Die historische Wahrheit gäbe es nicht, sondern allenfalls Wahrheiten, auch die Geschichte nicht, sondern allenfalls Geschichten. Die wichtigste Instanz für Wahrheit und für Wissenschaftlichkeit stelle in der Geschichtswissenschaft ein Verfahren dar: nämlich die intersubjektive Überprüfbarkeit. Forscher müssen Thesen in einer Wissenschaftsgemeinschaft diskutieren lassen, Methoden und Quellen müssen ebenso nachprüfbar sein, wie die Prozeduren und Prinzipien der Tatsachen- oder Wahrheitsfindung offen gelegt werden müssen, um die perspektivische Begrenztheit mit einzubringen. Wissenschaftliche Erkenntnis ziele nicht mehr nur darauf, Fakten festzustellen, sondern auch darauf Verantwortung zu übernehmen. Aktuelle Informationen zum Wissenswerk Landshut immer unter

www.wissenswerk-landshut.de.
Dr. Karl Borromäus Murr bei seinem Wissenswerk-Vortrag.
Die lebhafte Diskussion, moderiert von Dr. Alfons Hämmerl, zeigte das große Interesse am Thema.
Hochschulpräsident Prof. Dr. Karl Stoffel bei der Begrüßung der Teilnehmer.