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Barrierefreie Kommunikation durch Gebärdensprache und Deaf Studies

Die Hochschule Landshut hat sich der Unterstützung von Gehörlosen verschrieben und beweist damit einmal mehr Pioniergeist dank ihrer Dozierenden: sie ist bis heute im gesamten Freistaat Bayern der einzige Standort für diesen Studiengang.

Kürzlich ist es Margit Hillenmeyer wieder passiert: sie hat einen wichtigen Termin verpasst. Dabei war sie nicht etwa zu spät. Sie war mit dem Zug unterwegs, es kam zu Verzögerungen und sie musste umsteigen. Eigentlich kein Problem. „Der Ersatzzug fuhr aber von einem anderen Gleis als sonst üblich ab“, erzählt sie. Leider wurde das nur als Durchsage verbreitet. Und so bekam es die gehörlose Gebärdensprachdozentin aus Landshut nicht rechtzeitig mit. Wohl jeder gehörlose Mensch kann zahlreiche Geschichten wie diese erzählen. Auch in diesem Jahr machte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Welttag des Hörens (3. März) auf die Bedeutung des Gehörs aufmerksam.

Denn egal ob beim Einkaufen, bei Terminen oder im Verkehr: der Alltag in Deutschland ist geprägt von Situationen, in denen das Gehör gefordert wird. Und wer nicht hören kann, wird in vielen Situationen dementsprechend ausgegrenzt. „Die größten Probleme, auf die wir stoßen, kann man unter dem Stichwort Kommunikation zusammenfassen“, sagt Sabine Fries. Sie ist ebenfalls gehörlos und Professorin im Studiengang Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule Landshut.


Auf jeden Dolmetscher kommen 100 Gehörlose


Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht mindestens einmal sagen muss: „Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden. Ich bin gehörlos.“ Viele Menschen würden dann instinktiv reagieren, indem sie lauter sprechen – oder sich ganz abwenden. Das jedoch ist nicht hilfreich. Normalerweise versuchen Gehörlose, ihrem Gegenüber von den Lippen abzulesen und aus dem Kontext den Sinn zu erschließen; so auch Fries. Dafür ist aber eine gute Artikulation wichtig. Lauter sprechen hilft nicht – besser langsam und deutlich. Doch auch dann kann es zu Missverständnissen kommen. Nicht hören zu können bedeutet aber natürlich nicht, sich nicht ausdrücken zu können. Viele gehörlose Menschen nutzen die Deutsche Gebärdensprache (kurz DGS), um sich zu verständigen. Aber so, wie sie besprochene Worte nur schwer oder gar nicht verstehen können, tun sich viele Hörende wiederum mit visueller Kommunikation schwer. Deswegen gibt es auch den Beruf Gebärdensprachdolmetscher. Es sind nicht viele. Deutschlandweit gibt es nur etwa 800, schätzt der Deutsche Gehörlosen-Bund. In Deutschland leben jedoch gut 83.000 gehörlose Menschen. Das bedeutet: Auf jeden potenziellen Dolmetscher kommen mehr als 100 Personen, die gelegentlich seine Expertise benötigen.

Diese einfache Rechnung zeigt: es bräuchte deutlich mehr Dolmetscher*innen. Doch die müssen erst gefunden und ausgebildet werden. Und das ist gar nicht so einfach. Bundesweit gibt es nur acht Hochschulen respektive Universitäten, an denen Interessierte einen qualifizierten Bachelor-Abschluss als Gebärdensprachdolmetscher*in machen können. Die Hochschule Landshut ist eine darüber hinaus die einzige in Bayern. Sowohl Sabine Fries als auch Margit Hillenmeyer lehren hier.


Dialekte gibt es auch in der Gebärdensprache


Hillenmeyer gilt in Fachkreisen als Pionierin für Gebärdensprachlehre, hat mehrere Bücher zur DGS verfasst. Sie sagt: „Die DGS ist eine eigene, vollwertige und schöne Sprache, die zu schade ist, um in die ‚Hilfsmittel-Ecke‘ gedrängt zu werden.“ Leider wissen viele hörende Menschen nur wenig darüber. Ein weit verbreiteter Irrtum ist etwa, dass die DGS eine „Übersetzung“ der Lautsprache sei. „Das ist sie nicht. Es gibt keine 1:1-Entsprechung“, sagt Hillenmeyer. „Eine Geste für jedes Wort oder jede Silbe – diesen Wunsch können wir Hörenden leider nicht erfüllen“, fügt Sabine Fries lachend an. Stattdessen ist die DGS eine gleichermaßen manuelle wie non-manuelle Sprache. Manuell, weil natürlich viel mit Gebärden gearbeitet wird. Non-manuell, weil auch die Mimik eine wichtige Rolle spielt. So können Feinheiten zum Ausdruck gebracht werden, die bei der Lautsprache durch den Tonfall transportiert würden. Aber vor allem ist Sie eine eigenständige Sprache. Genau wie beim Gesprochenen kennt auch die DGS eigene Redewendungen und Dialekte. „Ein Paradebeispiel sind hier die Wochentage“, sagt Hillenmeyer. Der Sonntag etwa. Im katholischen Bayern wird dafür eine Geste geformt, die an betende Hände erinnert. „Weil der Sonntag hier mit dem Gottesdienst verknüpft ist.“ Fries wiederum, die aus Berlin kommt, streicht dafür mit der Hand über den Körper. „Diese Geste erinnert daran, dass man sich etwas Feines anzieht“, sagt sie. Zwei Regionen, zwei Gesten, eine Bedeutung. So vielseitig kann lautlose Kommunikation also sein.


Dabei helfen, Menschen zusammenzubringen


Als Dolmetscher*in muss man sich mit diesen regionalen Besonderheiten natürlich vertraut machen. Der Studiengang an der Hochschule bereitet angehende Dolmetscher*innen auch darauf vor. Das sieben Semester andauernde Studium besteht hierbei aus drei Säulen. Erste Säule: Sprachkompetenz – also dem Erlernen der DGS. Zweite Säule: Das Themenfeld der „Deaf Studies“. Vereinfacht gesagt handelt es sich hierbei um Soziologie, Geschichte und Kultur von gehörlosen Menschen. Die dritte Säule stellt das Dolmetschen an sich dar.

Um mehr Aufmerksamkeit für den Studiengang und das Thema Gebärdensprachdolmetschen an sich zu schaffen, hat die Hochschule Landshut im Oktober 2022 ein eigenes Projekt gestartet. Ziel ist es, den Beruf bekannter zu machen, den Nachwuchsmangel zu bekämpfen und gleichzeitig mehr Verständnis für die Situation von Gehörlosen zu schaffen. Das Projekt soll bis September 2024 laufen und wird vom bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert. Geleitet wird es von den beiden Professorinnen Sabine Fries und Uta Benner. Ein gewöhnlicher Studiengang ist das definitiv nicht. Da sind sich Fries und Hillenmeyer sehr einig. „Wir sind ein kleines Team und nehmen 15 bis 20 Studierende pro Jahrgang auf. Das hat viele Vorteile.“ Statt anonymem Nebeneinander im Hörsaal gehen angehende DGS-Dolmetscher*innen raus, kommen mit gehörlosen Menschen in Kontakt, erleben die andere Perspektive mit eigenen Augen. „Das ist nicht für jeden was. Gebärdensprachdolmetscher ist ein anspruchsvoller Beruf – für mich allerdings ist es einer der schönsten Berufe überhaupt“, sagt Fries. „Weil man dabei hilft, Menschen zusammenzubringen.“


Was angehende Dolmetscher*innen mitbringen sollten


Als Gebärdensprachdolmetscher*in übt man keinen alltäglicher Beruf aus. Zudem basiert die Ausbildung auf keinem normalen Studiengang. Das spiegelt sich auch in den Anforderungen an die Studierenden wider. Sie müssen beispielsweise bereits im Vorfeld Kenntnisse der Deutschen Gebärdensprache (DGS) mitbringen. Allerdings reicht hier die Niveaustufe A1, die niedrigste Stufe. Entsprechende Kurse gibt es etwa bei Volkshochschulen oder Sprachschulen. Dazu kommen private Institutionen wie beispielsweise Blickfang aus München oder Manimundo aus Hamburg, die teilweise auch Fernunterricht anbieten. Niveaustufe A1 bedeutet, dass zumindest einfache Sätze mit Gebärden gebildet werden können und simple Gespräche möglich sind. So müssen sich Bewerber*innen schon vor dem Studiengang mit der DGS auseinandersetzen. Idealerweise merken sie da bereits, ob sie damit zurechtkommen. Vor der Aufnahme des Studiums findet außerdem ein fakultativer Selbsteinschätzungstest statt, zu dem auch ein Alltagsgespräch in DGS gehört.

Der Studiengang ist dementsprechend grundsätzlich zulassungsbeschränkt. Das Studium beginnt in der Regel zum 1. Oktober und umfasst sieben Semester – darunter ein Praxissemester. Großen Raum nehmen dabei die Themenkomplexe (oben als Säulen beschrieben) Sprachkompetenz, Deaf Studies und natürlich das Dolmetschen selbst ein. Die Studieninteressierten sollten eine rasche Auffassungsgabe, Reflexionsfähigkeit und Flexibilität mitbringen. Erwartet wird außerdem ein ausgeprägtes Interesse an der Gemeinschaft gehörloser Menschen und vorbildliches Verhalten im Umgang mit ihnen. Schließlich haben Dolmetscher*innen auch eine ethische Verantwortung. Studenten kommen schließlich immer wieder in Kontakt mit gehörlosen oder taubblinden Menschen. So lernen sie, sich in deren Situation hineinzuversetzen. An der Hochschule Landshut gibt es den Bachelorstudiengang „Gebärdensprachdolmetschen“ seit dem Semester 2015/2016. Die Hochschule Landshut ist bis heute bayernweit der einzige Standort für diesen Studiengang. Als Vorlage für diesen Text dienten die am 03. März 2023 in der Mediengruppe Straubinger Tagblatt / Landshuter Zeitung veröffentlichten und von Patrick Beckerle verfassten Artikel "Lauter sprechen hilft nicht" und "Das sollten angehende Dolmetscher mitbringen".